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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 56.1925

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Michel, Wilhelm: Die Neue Sachlichkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.9179#0316

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Die neue Sachlichkeit,

läge, einer fromm-nüchternen Beschaulichkeit.
— Während die bisher genannten Künstler im
prägnanten Sinn der Gegenwart angehören,
ragen in das Werk Beckmanns die impressio-
nistische und die expressionistische Anschau-
ungsweise noch fühlbar hinein. Das Expressio-
nistische wirkt bei ihm mehr als eine ablen-
kende denn als eine fördernde Tendenz. Beck-
mann scheint im Grunde reinblütiger Maler;
dafür spricht seine breite Sinnlichkeit und das
rein malerische Temperament seines Pinsels.
Seine „Sachlichkeit" hat am wenigsten begriff-
liche Elemente; er ist Augenmensch und Emp-
findungsmensch — trotz aller betonten Schärfe
und Kälte der Haltung —, er versteht sich aufs
Leben und auf die Freude am Dasein.

Wie weit die neue „Sachlichkeit" von der
alten verschieden ist, kann in Mannheim sehr
schön abgelesen werden an einer Landschaft
von Ernst Haider. Er hat sich sehr eng an den
Realismus seines Vaters Karl Haider ange-
schlossen. Eine Gebirgswelt wird aufgebaut
mit mächtigen Rücken, kahlen Höhen und in
die Tiefe hinabschäumenden Wäldern; alles
Dingliche ist mit peinlicher Gewissenhaftigkeit
aufgefaßt. Aber man spürt, daß für diesen
Realismus das Auseinandertreten von Ich und

Objekt noch nicht stattgefunden hat. Der Nach-
hall von Befremdung fehlt. Das Ich fühlt sich
in dieser Welt noch durchaus zuhause, die Ent-
zweiung hat noch nicht ihre Kälteschauer durch
diese realistische Weltseligkeit gejagt. Es ist
nicht der Weg und nicht der Wegpunkt der
neuen Realisten. Deshalb liegt zwischen Ernst
Haider und den andern eine unüberbrückbare
Kluft; sie gehören verschiedenen geschicht-
lichen Tageszeiten an. Wenn zwei Menschen
sich des aufdämmernden Morgens erfreuen, von
denen der eine soeben aufgestanden, der andre
aber dieNachtim Cafe durchwacht hat, so scheint
dieselbe objektive Situation bei beiden gege-
ben; und doch ist sie vom einen zum andern
völlig verschieden: Der eine gehört noch ins
gestern, der andre ist von heute;

Es findet sich also im Rahmen der neuen
Sachlichkeit eine Vielzahl von Temperamenten,
Bekenntnissen und Weltbildern zusammen.
Der Rahmen wird vermutlich nicht lange Zeit
halten. Er wird wohl bald gesprengt werden.
Aber vorläufig tut er ausgezeichnete Dienste
zur Umreißung einer neuen Grundgesinnung,
die notwendig war, um die überhitzte Subjek-
tivität loszuwerden, um wieder eine Art Wirk-
lichkeit festzustellen..... wilhelm michel.

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